Der Geist des Felix D. Müller
Sie hatte es geschafft, damit wollen wir anfangen. Daran bestand nicht der geringste Zweifel. Die Peer-Review-Gutachten zu ihrem Aufsatz lagen auf dem Tisch, der Verlagsvertrag mit den Unterschriften ebenfalls. Und auf all diesen Blättern stand ihr Name: Diana-Marie Pollmann.
Einige Monate zuvor, im Dezember: Es war schon Abend, als der sanfte Regen, der bisher das Licht der Laternen auf dem Pflaster des Campus reflektierte, in Schnee überging. Weiße Flocken tanzten im Licht und eine friedliche Stille breitete sich aus. Die Plätze und Räume der Hochschulgebäude waren verlassen, die Ruhe zwischen Weihnachten und Silvester hielt Einzug. Nur in einem Büro im Trakt R5 brannte noch Licht.
Dort saß Diana-Marie Pollmann seit Stunden an ihrem Schreibtisch und arbeitete an ihrem Artikel. Sie war sehr müde und nickte immer wieder ein. Plötzlich hörte sie Schritte im Gang, die durch das leere Gebäude hallten. Die KollegInnen aus ihrer Arbeitsgruppe waren als letzte vor einer Stunde gegangen und hatten vergeblich versucht, sie dazu zu überreden, mit ihnen etwas trinken zu gehen. Sie hatte abgelehnt, da die Deadline für die Einreichung um 23:59 Uhr ablief. Die Schritte näherten sich ihrem Büro und sie hörte ein leichtes Klopfen. Als die Tür sich öffnete, sah sie ihren ehemaligen Doktorvater, Felix D. Müller. Sie wunderte sich sehr über sein Erscheinen, da er eigentlich anlässlich einer Gastprofessur in Frankreich sein sollte.
„Wie geht es Ihnen? Ich dachte, Sie wären noch in Avignon?“. Doch er ignorierte ihre Frage und schaute sie nur stumm und mit zusammengekniffenen Augen an. So langsam wurde ihr die Begegnung ziemlich unheimlich. Die Stille dehnte Sekunden zu Minuten und Minuten zu Stunden, die Atmosphäre im Raum begann sie zu bedrücken. Sie wollte schon Luft holen, um die Situation in eine andere Richtung zu lenken, da begann er zu sprechen: „Ich bin gekommen, um dich vor dem fürchterlichen Schicksal zu bewahren, das mir widerfahren ist“. Seine gesamte Ansprache verwirrte sie. Welches Schicksal? Warum dutzte der sonst eher distanzierte und auf Form bedachte Professor sie? Er schien ihre Verwirrung nicht wahrzunehmen und sprach weiter: „Wenn du so weitermachst wie bisher, wird dir Fürchterliches widerfahren. Ich werde dir heute bis Mitternacht drei Geister schicken, die dich wieder auf den rechten Pfad leiten sollen“.
War das ein Traum? Eine Halluzination? Oder ein schlechter Scherz? Diana-Marie Pollmann war sich nicht sicher und wollte das unangenehme Gespräch beenden, um sich wieder ihrem Artikel zu widmen oder – falls sie doch träumen sollte – aus diesem Albtraum aufzuwachen: „Na klar, würdest du jetzt bitte gehen? Ich habe bis Mitternacht noch einiges zu tun, ich muss nämlich diesen wichtigen Text bis dahin einreichen“. Felix D. Müller verließ schweigend den Raum, ohne sie aus dem Blick zu lassen. Als er um die Ecke verschwand, atmete sie auf, erschrak dann aber: Warum hörte sie jetzt keine Schritte mehr? …
Wie es weitergeht, erfahren Sie am Freitag vor dem 2. Advent.